Ein Echo der Hermeneutik im Werk Hans J. Vermeers

Radegundis Stolze (TU Darmstadt)

„Vielleicht ist es das, was den guten Übersetzer ausmacht: Das Staunen angesichts der Fremdheit einer anderen Welt.“

Hans J. Vermeer. „Naseweise Bemerkungen zum literarischen Übersetzen.“ TEXTconTEXT, 1986, S. 146.

Der Beitrag zeigt auf, wie die Hermeneutik an vielen Stellen in Vermeers Werk als Hintergrund auf-scheint. Aber das Wort „Hermeneutik“ kam bei ihm tatsächlich nur einmal vor: in seinem Aufsatz „Hermeneutik und Übersetzung(swissenschaft)" von 1994. Darin ging es nur um historische Aspekte. Hermeneutische Ansätze des Übersetzens werden in seinem Werk einfach ignoriert. Er sieht darin eine „traditionelle Vorstellung“ der „Fidelität zum Ausgangstext“ (1988:120) und setzt dem seine eigene angeblich „moderne“ handlungsbasierte Theorie entgegen (1988:123). Vermeer hat eine völlig falsche Vorstellung vom Reden und Verstehen. Er sieht nur die äußeren Faktoren und behauptet „eine fremde Situation könne nur insoweit vertextet werden, als sie in die je aktuelle assimilierbar sei, was über Stereotypisierungen möglich sein könnte“ (1986:37). Damit wiederholt er die damals verbreitete Vorstellung, hermeneutisches Verstehen würde nur bedeuten, etwas Fremdes auf das Eigene zu reduzieren. Das Gegenteil ist der Fall. Vermeer glaubt, der Ausgangstext sei „entthront“ (1986:42), weil er das verstehende Übersetzen mit „Imitation“ verwechselt. Er kritisiert bei literarischen Übersetzungen die „Individualität (Regellosigkeit)“, mit der gelegentlich Abweichungen von der Fidelität erfolgen würden (1988:121). Damit hat er die Rolle des Translators missverstanden. In seinem Bemühen, das translatorische Handeln als zweckorientiert darzustellen, argumentiert er dann nur noch mit außersprachlichen „Faktoren“ wie der „Situation des Translators, den Welten des Auftraggebers oder der Kultur der Zielrezipienten“ (1986:41), von „Personenmengen in Interaktion“ (1988:127). So gerät ihm das eigentliche Problem des Übersetzens, der Ausgangstext und die Vermittlung von dessen Botschaft, immer mehr aus dem Blick. Vermeer behauptet: „Recht betrachtet übersetzt man immer, wenn man kommuniziert, nämlich eigenes (Idio-Kulturelles) oder Angeeignetes in die Zusammenhänge der Welten des Partners“ (1986:45). Das ist der sog. „interpersonale Transfer“, der dann später zum „transkulturellen Transfer“ (1986:34) ausgebaut wurde, so als könne man eine Botschaft einpacken und versenden. Aber nein, man formuliert einfach einen Gedanken und hofft, dass der verstanden wird.

Mit ihrem Prinzip des hermeneutischen Zirkels, mit der Betonung auf der Subjektivität des handelnden Menschen, mit dem holistischen Ansatz des Weltzugangs im Verstehen und der situations-adäquaten Rhetorik in der Kommunikation bietet die Hermeneutik freilich die angemessene Basis einer Didaktik für kritisch reflektiertes und verantwortliches Übersetzen, wie es von Vermeer als bloße Forderung formuliert wurde. Die Argumentation wird anhand vieler Vermeer-Zitate untermauert.

Die Hermeneutik ist eine moderne Sprachphilosophie, die nach den Bedingungen des Verstehens durch geschichtlich gebundene Individuen fragt, und sie erweist sich damit als der angemessene Hintergrund der Translation. Es ist ein Missverständnis zu meinen, in der Hermeneutik werde „grundsätzlich ein solipsistischer Standpunkt vertreten“, sodass hermeneutische Ansätze nur die „philologische Tradition rekapitulieren“ würden, und es speziell zum Fachübersetzen hier keine Arbeiten gäbe (Siever 2010:103). Das Gegenteil ist der Fall, die Hermeneutik war eine Regelsammlung zum Verstehen von Fachtexten und wurde durch Schleiermacher mit seiner Frage nach der Möglichkeit des Verstehens überhaupt erst ins Grundsätzliche gewendet. Hier wird kein „statischer Text-begriff“ eines „unveränderlich gegebenen Textsinns“ vertreten (Siever 2015:146), sondern kulturell oder fachlich gebundene Texte werden „im Lichte“ vorhandenen Wissens ausgelegt und kritisch reflektiert. „Das Staunen angesichts der Fremdheit einer anderen Welt“ (Vermeer) ist dabei Auslöser für gezieltes Lernen. Vermeers Forderung, „der Translator soll plurikulturell sein“ (1986:39) ist insofern richtig, wird aber nirgends angewandt. Die Übersetzer haben aufgrund ihres Wissens eine Doppelperspektive auf Inhalt und Form der Texte sowohl beim Verstehen wie beim stimmigen Formulieren der Botschaft in einer anderen Sprache.

Besonders relevant für die translatorische Tätigkeit ist die Rhetorik als eine Zusammenstellung von Qualitäten der fachlich angemessenen und wirkungsvollen Rede und des funktional adäquaten Schreibens. Dies ist in der „Übersetzungshermeneutik“ seit einem Vierteljahrhundert diskutiert und immer weiter verfeinert worden. Entsprechende Hinweise sollen in dem Beitrag vorgestellt werden.

Literatur

Reiß, Katharina/Vermeer Hans J. (1984): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen: Niemeyer.
Siever, Holger (2015): Übersetzungswissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr.
Stolze, Radegundis (1992): Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen. Tübingen: Narr.
Stolze, Radegundis (2015): Hermeneutische Übersetzungskompetenz. Grundlagen und Didaktik. Berlin: Frank & Timme.
Stolze, Radegundis /Stanley, John W./Cercel, Larisa (eds.) (2015): Translational Hermeneutics. The First Symposium. Bucharest: Zeta Books.
Vermeer, Hans J. (1996): Die Welt in der wir übersetzen. Drei translatologische Beiträge zu Realität, Vergleich und Prozeß. Heidelberg: TEXTconTEXT.
Vermeer, Hans J. (2006): Versuch einer Intertheorie der Translation. Berlin: Frank & Timme.


An echo of hermeneutics in the work of Hans J. Vermeer

This paper demonstrates how hermeneutics keeps appearing as a backdrop at many points in Vermeer’s work. However, the term “hermeneutics” is only mentioned once in his writings: in his article “Hermeneutics and Translation (Studies)” (“Hermeneutik und Übersetzung(swissenschaft)”) from 1994. It dealt with historical issues only. Hermeneutic approaches to translating are simply ignored in his work. He sees them as resting on “traditional ideas” of “fidelity towards the source text” (1988: 120) and sets his own supposedly “modern” action-based theory against them (1988: 123). Vermeer has a completely false idea of speech and understanding. He only sees external factors and says that “an unfamiliar situation can only be textualized to the degree that it can be assimilated to the current situation, which could be possible through stereotypisation” (1986: 37). He repeats then the widespread idea that hermeneutic understanding could only consist in reducing the unfamiliar to the familiar. But the opposite is true. Vermeer believes that the source text is “dethroned” (1986: 42) because he confuses hermeneutic translation with “imitation”. In literary translations he criticises the “individuality (randomness)” with which deviations from fidelity sometimes occur (1988: 121). He thus misunderstood the role of the translator. In his attempt to describe translatorial action as purpose-oriented, he only argues with extra-linguistic “factors”, such as the “situation of the translator, the worlds of the commissioner or the target recipient’s culture” (1986: 41), the “number of persons in interaction” (1988: 127). This way he loses more and more sight of the true problem of translation – the source text and the mediation of its message. Vermeer writes: “In fact, one always translates during communication, namely something proper (idio-cultural) or appropriated into the context of the partner’s worlds” (1986: 45). This is the so-called “interpersonal transfer” which was later developed into the “transcultural transfer” (1986: 34), as if it were possible to pack a message and send it off. But in fact, one only formulates a thought and hopes that it will be understood.

With its principle of the hermeneutic circle, its emphasis on the subjectivity of human agency, its holistic approach to the world through understanding and its situation-adapted rhetoric in communication, hermeneutics certainly offers the appropriate basis for a didactic approach that permits critically reflected and responsible translating in a way that was only proclaimed but not realised by Vermeer. The argumentation will be supported by many quotations from Vermeer’s work.

Hermeneutics is a modern philosophy of language which reflects the conditions of understanding by historically situated individuals. Hence, it is the appropriate background for translation. It is a misunderstanding that hermeneutics is “generally based on a solipsistic standpoint”, only “recapitulating the philological tradition”, and that there are no works on specialised translation (Siever 2010: 103). The opposite is true, hermeneutics was a collection of rules for understanding specialised literature. It was transformed into a fundamental mode of reflection by Schleiermacher’s question about the very conditions of the possibility of understanding. Hermeneutics does not assume a “static concept of text” with an “objectively given meaning” (Siever 2015: 146). Rather, it assumes that culturally or technically bound texts are interpreted “in light” of already existing knowledge and that they are critically reflected. In this context, “amazement in the face of the foreignness of a different world” (Vermeer) is the catalyst for purposeful learning. In this sense, Vermeer’s demand that “the translator should be pluricultural“ (1986: 39) is correct, but nowhere is it applied. Because of their knowledge, translators have a double perspective on the content and form of texts during understanding as well as formulating the message in a different language.

Rhetoric, as a collection of qualities of technically appropriate and effective speech and of functionally adequate writing, is particularly relevant for translatorial activity. This has been discussed and refined in “translational hermeneutics” for a quarter of a century. References will be given in the presentation.

Translated by Tomasz Rozmyslowicz