Ein (naseweiser?) Versuch, Hans Vermeer mit Antoine Berman sich austauschen zu lassen: Auseinandersetzung mit zwei theoretischen Herangehensweisen an die literarische Übersetzung

Marcelo Rondinelli (Universidade Federal de Minas Gerais, Brasilien)

 „Vielleicht ist es das, was den guten Übersetzer ausmacht: Das Staunen angesichts der Fremdheit einer anderen Welt.“

Hans J. Vermeer. „Naseweise Bemerkungen zum literarischen Übersetzen.“ TEXTconTEXT, 1986, S. 146.

In diesem Vortrag werden die Ergebnisse eines Studienseminars vorgestellt, bei dem Literatur- und Übersetzungswissenschaftsstudierende der Bundesuniversität Minas Gerais (Brasilien) mit verschiedenen theoretischen Ansätzen der Translations- bzw. Übersetzungswissenschaft konfrontiert wurden. Zuerst wurde die funktionalistische Skopostheorie von Hans Vermeer (1986) präsentiert und besprochen. Anschließend stand Christiane Nord (1996, 2011) mit ihrem Fokus auf den Aspekt der Loyalität im Mittelpunkt. Diesmal wurde nicht – wie sonst oft der Fall ist – die „Anwendbarkeit“ beider Theorien auf Fragestellungen zu literarischer Übersetzung hinterfragt, sondern die Entwicklung betrachtet, die verschiedene theoretische Ansätze im Laufe der letzten dreißig Jahre erlebt haben: von den „Naseweise[n] Bemerkungen zum literarischen Übersetzen“ Vermeers (1986) und der anfänglichen Ablehnung funktionalistischer Erkenntnisse durch Forscher, die sich mit Problemen literarischer Übersetzungen beschäftigten, bis zu den neuesten Entwicklungen (vgl. u. a. Nord, 2011, vor allem S. 45ff im Kapitelabschnitt „Übersetzungshandwerk – Übersetzungskunst: Was bringt die Translationstheorie für das literarische Übersetzen“). Ein weiterer Fokus des Seminars lag auf der „traductologie“ von Antoine Berman (1985, 1991). Mit seinem Plädoyer für eine „Analytik“ und eine „Ethik“ der (literarischen) Übersetzung fand der französische Übersetzungstheoretiker schon früh besondere Anerkennung unter Forschern der Interdisziplin. Es fällt jedoch auf, dass auch in funktionalistischen Studien, die nach den Postulaten Vermeers entwickelt wurden, wie bei Nord (2011), eine Dimension der Ethik (bei der deutschen Theoretikerin in Bezug auf Loyalitätskategorien) erörtert wird. Im Seminar hatten die Studierenden nicht nur die Möglichkeit, verschiedene Herangehensweisen (näher) kennenzulernen, sondern in erster Linie auch, sie prüfend mit ihnen auseinanderzusetzen und darüber zu reflektieren, ob bzw. inwiefern sie in der theoretischen Diskussion zur literarischen Übersetzung als „vereinbar“ oder sogar als komplementär zu betrachten sind. Beabsichtigt war also die Förderung einer Betrachtungsweise, die die Erkenntnisse von verschiedenen Ansätzen aufnimmt und aus ihren Beiträgen zur Erforschung von Problemen der literarischen Übersetzung Nutzen ziehen kann.

Literatur

Baker, Mona/Saldanha, Gabriela (2009): Routledge Encyclopedia of Translation Studies. London/New York: Routledge.
Berman, Antoine (2013): A tradução e a letra ou ou albergue do longínquo [Brasilianisch]. Übers. Marie-Helène Catherine Torres, Mauri Furlan und Andreia Guerini [Urspr. Titel : La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain (1985/1999)]. Tubarão/Florianópolis: Copiarte/UFSC.
Berman, Antoine (1995): Pour une critique des traductions: John Donne. Paris: Gallimard.
Nord, Christiane (2011): Funktionsgerechtigkeit und Loyalität. Berlin: Frank & Timme.
Nord, Christiane (1988): „Functionalism in literary translation“, in: Translating as a Purposeful Activity: Functionalist approaches explained. London: Routledge.
Pym, Anthony (2009): Exploring Translation Theories. London/New York: Routledge.
Vermeer, Hans (1986): „Naseweise Bemerkungen zum literarischen Übersetzen“, in: TEXTconTEXT 1(3), 145-150.
Vermeer, Hans (1996): A skopos theory of translation. Heidelberg: TEXTconTEXT Verlag.


A (cheeky?) attempt at an exchange between Hans Vermeer and Antoine Berman – An analysis of two different theoretical approaches to literary translation

In this presentation, the results of a research seminar will be discussed during which students of literary and translation studies of the Federal University of Minas Gerais (Brasil) were confronted with different theoretical approaches in Translation Studies. First, the functionalist skopos theory of Hans Vermeer (1986) was presented and discussed, followed by Christiane Nord (1986, 2011) and her focus on the aspect of loyalty. Here, the “applicability” of both theories with regard to problems in literary translation was – as is otherwise often the case – not questioned. Rather, the evolution which different theoretical approaches have experienced in the last thirty years was analyzed: from “Naseweise[n] Bemerkungen zum literarischen Übersetzen” by Vermeer (1986) and the initial rejection of functionalist findings by scientists who researched the problems of literary translations to the newest developments (see for example Nord, 2011, especially p. 45 and following in the subchapter “Übersetzungshandwerk – Übersetzungskunst: Was bringt die Translationstheorie für das literarische Übersetzen”). A further focal point for the seminar was the “traductologie” of Antoine Berman (1985, 1991). With his plea for an “analytics” and “ethics” of (literary) translation, the French translation theoretician earned special recognition amongst researchers of this interdiscipline. It should also be noted that in functionalist studies which were carried out according to Vermeer’s postulates, like Nord (2011), an ethical dimension (in Nord with regard to categories of loyalty) is also discussed. During the seminar, students not only had the opportunity to become (more) familiar with different approaches, but especially to analyze and reflect  to which extent these approaches are “compatible” or even complementary for the theoretical discussion of literary translation. The objective was, in other words, to encourage a new perspective which incorporates the findings of different approaches and profits from these contributions to the research of literary translation problems.

Translated by Johanna Eufinger