Ist die Skopostheorie für die historische Übersetzungsforschung geeignet? Vermeers Untersuchungen zum Übersetzen im 15. und 16. Jh.

Karl Gerhard Hempel (Università del Salento, Italien)

„Wozu treibt man Historiographie? Wozu werden Translate und vergangene translatorische Handlungen untersucht?“

Hans J. Vermeer. Skizzen zu einer Geschichte der Translation. Bd. 2. Altenglisch, Alt- und Frühmittelhochdeutsch: Literaturverzeichnis und Register für Band 1 und 2. Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1992, S. 13.

Hans J. Vermeer ist der bisher einzige Forscher, der den Versuch unternommen hat, eine umfassende Geschichte des Übersetzens im Europa des 15. und 16. Jhs. zu erarbeiten, wobei er sich einerseits auf die spezifische Fachliteratur stützte, andererseits aber auch seinen übersetzungstheoretischen Ansatz im historischen Kontext als Arbeitsinstrument zur Anwendung brachte. Damit setzte er sich bewusst von binären Interpretationsmustern ab, mit denen die philologische Forschung die Übersetzungstätigkeit im späten Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit zu beschreiben suchte wie etwa dem Gegensatzpaar vertikal (d.h. von Bildungssprache in Volkssprache)-horizontal (d.h. zwischen Sprachen desselben Prestigegrads) oder der Hervorhebung einer fortschrittlichen ‚humanistischen‘ Übersetzungskonzeption im Gegensatz zur mittelalterlichen. In den letzten 15 Jahren hat sich Forschung, welche – insbesondere, was die Zeit des Frühneuhochdeutschen angeht – einen überraschenden Aufschwung erlebt hat, der weiterhin anhält, dagegen um die Entwicklung eines differenzierteren Bildes bemüht.

Im Vortrag soll zunächst diskutiert werden, welche konkreten Ergebnisse Vermeer durch die Anwendung der Skopostheorie für die Übersetzungsgeschichte im Einzelnen gewinnen und inwieweit diese zu einer Validierung seines theoretischen Ansatzes beitragen konnten. Anschließend soll die Rezeption von Vermeers Ergebnissen in der Forschung untersucht werden und inwieweit diese davon profitieren konnte. Abschließend soll die Frage nach der Tauglichkeit der heute in der übersetzungsgeschichtlichen Forschung zum 15. und 16. Jh. verbreiteten theoretischen Ansätze gestellt werden.

Literatur

Hans J. Vermeer: Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus (15. und 16. Jahrhundert). Bd. 1: Westeuropa. Bd. 2: Der deutschsprachige Raum. Literatur und Indices. Heidelberg: TextConText 2000.


Is Skopos Theory suitable for historical translation research? Vermeer’s studies on translation in the 15th and 16th century

As of yet, Hans J. Vermeer is the only scholar who has attempted to write a comprehensive history of translation in 15th and 16th century Europe. He based his attempt on specialised literature and on his own theoretical approach to translation. By doing so, he consciously distanced himself from binary patterns of interpretation used by philological research on translation activity in the late Middle Ages or Early Modern Age, such as the opposition between vertical (from erudite languages to the vernaculars) and horizontal (between languages of equal status) or the emphasis on a progressive ‘humanistic’ conception of translation as opposed to a medieval one. In the last fifteen years, however, research has surprisingly begun to flourish – especially on the period of Early Modern High German – which tries to paint a more differentiated picture.

This presentation discusses the specific results Vermeer was able to achieve for translation history by using his skopos theory as well as their potential for validating his theoretical approach. In a next step, the reception of Vermeer’s results in academic research and their benefits are investigated. Finally, the question is raised whether the theoretical approaches most common in translation historical research on the 15th and 16th centuries are appropriate.

Translated by Tomasz Rozmyslowicz