Wie viel Translationstheorie braucht die Historiographie?

Michael Schreiber (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

„Wozu treibt man Historiographie? Wozu werden Translate und vergangene translatorische Handlungen untersucht?“

Hans J. Vermeer. Skizzen zu einer Geschichte der Translation. Bd. 2. Altenglisch, Alt- und Frühmittelhochdeutsch: Literaturverzeichnis und Register für Band 1 und 2. Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1992, S. 13.

Hans Vermeer hat in den Jahren 1992 bis 2000 umfangreiche Studien zur Geschichte der Translation von der Antike bis in die Renaissance vorgelegt. Vom translationswissenschaftlichen Mainstream sind diese Publikationen bisher kaum gewürdigt worden, da sich die Vermeer-Rezeption häufig auf die Skopostheorie beschränkt (vgl. Schreiber 2011).

In der Einführung zu seinen Skizzen zu einer Geschichte der Translation betont Vermeer, dass er Translationsgeschichte bewusst aus seinem eigenen Standpunkt heraus betreibt: „Ich glaube sogar, daß neue Erkenntnisse gewonnen werden können, wenn man den eigenen Standpunkt einbringt. So will ich versuchen, in den folgenden Skizzen vom Standpunkt des 'translatorischen Handelns' aus [...] traditionelle Sichtweisen zu neuen Aspekten weiterzuführen“ (Vermeer 1992, Bd. 1: 25f.).

Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag anhand einiger Fallbeispiele die folgenden Fragen behandeln:

  • Wie wirkt sich Vermeers theoretischer Standpunkt auf seine Beschreibungen und Bewertungen historischer Praktiken und Theorien der Translation aus?
  • Wie unterscheiden sich diese von Beschreibungen und Bewertungen, die von einem anderen – expliziten oder impliziten – Standpunkt aus vorgenommen werden?

Dies führt zu einer übergreifenden Fragestellung, die mich im Kontext meiner eigenen translationshistorischen Forschungen (vgl. z.B. Schreiber 2016) derzeit umtreibt: Wie viel (und welche) Translationstheorie braucht die Historiographie der Translation?

Literatur

Schreiber, Michael (2011): „Von Kassenschlagern und Ladenhütern: Selektive Rezeption in der Translationswissenschaft“, in: Schmitt Peter A. et al. (Hgg.): Translationsforschung. Tagungsberichte der LICTRA IX. Frankfurt/M.: Lang, 739–747.
Schreiber, Michael (2016): „Covert Multilingualism: The Case of the Translation Policy in France and Belgium during the French Revolution and the Napoleonic Era”, in: Across Languages and Cultures 17, 123-136.
Vermeer, Hans J. (1992): Skizzen zu einer Geschichte der Translation. Frankfurt: IKO (2 Bde.).
Vermeer, Hans J. (1996): Das Übersetzen im Mittelalter. Heidelberg: TEXTconTEXT (3 Bde.).
Vermeer, Hans J. (2000): Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus. Heidelberg: TEXTconTEXT (2 Bde.).


How much translation theory does translation history need?

From 1992 to 2000, Hans Vermeer published comprehensive studies on the history of translation, ranging from antiquity to renaissance. However, these publications have rarely been acknowledged by mainstream research in Translation Studies because the reception of Vermeer’s work predominantly focuses on his Skopos Theory (cf. Schreiber 2011).

In the introduction to his Outlines of a History of Translation Vermeer emphasises that he consciously investigates the history of translation from his own point of view: “I even believe that new insights can be gained by introducing one’s own standpoint. In the following outlines I attempt to further develop traditional perspectives towards new aspects through the lens of “translatorial action”” (Vermeer 1992, Vol. 2: 25 p.).

Against this background, I want to discuss the following questions by using several case examples:

  • How does Vermeer’s theoretical viewpoint influence his descriptions and evaluations of historical practices and theories of translation?
  • How do they differ from descriptions and evaluations undertaken from a different implicit or explicit standpoint?

Discussing these questions leads me to a more general problem which I am currently dealing with in my own research on translation history (for example: Schreiber 2016): How much (and which) translation theory does the historiography of translation need?

Translated by Johanna Eufinger